Heiligabend - und es war tats?chlich niemand gekommen. Weder ihre Schwester

und deren Ehemann, noch ihr Sohn mit Schwiegertochter und den drei Enkeln.

Elisabeth sa? allein in der abgrundtiefen Stille ihres Wohnzimmers.

Sie ?ffnete die runde Pl?tzchendose, die vor ihr auf dem Tisch stand, und

griff hinein. Ihre Z?hne versanken in einem butterweichen Lebkuchenherz, das mit

fruchtiger Aprikosenmarmelade gefüllt war.

"Bring blo? Weihnachten nicht wieder deine Bremskl?tze mit!", hatte sie

neulich zu ihrer Schwester gesagt, als sie sich auf der Stra?e trafen.

"Bremskl?tze?!"

"Ja. Diese ... diese ... Wie nennst die viereckigen Brocken, an denen man

sich s?mtliche Z?hne ausbei?t?"

"Baseler Leckerli", zischte Edith. "Und wenn du sie nicht magst, essen Gert

und ich sie eben allein auf."

Elisabeth nickte. "Gute Idee. Und diese ollen Dinger, von denen du

behauptest, es w?re Heidesand, k?nnt ihr gleich mit aufessen."

Edith schnappte nach Luft. "Ich will dir mal was sagen", fauchte sie, "wenn

du so über meine selbstgebackenen Pl?tzchen denkst, dann iss doch meinetwegen

das Zeug, das in den Fabriken am Flie?band hergestellt wird. Und wenn du nicht

willst -, der Gert und ich, wir brauchen Weihnachten auch gar nicht zu

kommen."

Elisabeth zuckte mit den Schultern. "Wie du meinst."

Wenn sie jetzt an das Gespr?ch zurückdachte, tat ihr Edith beinahe leid.

Aber nur beinahe. Sie griff noch mal in die Pl?tzchendose. Ein Zimtstern. Weich

und saftig, mit kr?ftigem Zimtgeschmack. Es ging doch nichts über Fabrikware!

Selbst gekauft!

Elisabeth betrachtete den kunterbunt geschmückten Weihnachtsbaum, der auf

der Dose abgebildet war. Auf der Spitze eines jeden Zweiges steckte eine Kerze,

deren Flamme in einem warmen Orangegelb leuchtete. Wirklich hübsch!

"Ich stell in diesem Jahr übrigens keine Weihnachtsstaude auf", hatte sie

vor ein paar Tagen ihrer Schwiegertochter so ganz nebenbei am Telefon

mitgeteilt.

"Du meinst, du willst keine Tanne?"

"Genau das meine ich! Nie passt das Ding in den St?nder. Und dann muss man

die elektrischen Kerzen reinfriemeln, Kugeln und Ged?hns an die pieksigen Zweige

h?ngen, und zu guter Letzt verneigt sich das Biest auch noch und f?llt einem

direkt vor die Fü?e, so wie letztes Jahr. Nee, das hab ich satt!"

Nina schwieg einen Augenblick "Aber ... die Kinder", brachte sie

schlie?lich hervor.

"Die k?nnen auch ohne Weihnachtsbaum leben", erwiderte Elisabeth leichthin.

"Hauptsache, die Geschenke stimmen."

"Darüber muss ich aber noch mal mit Marco reden", stammelte Nina. Danach

verabschiedete sie sich sehr schnell.

Elisabeth l?chelte zufrieden. Inzwischen war es drau?en dunkel geworden.

Sie zündete die dicke, goldene Kerze an, die sie sich für diesen Abend besorgt

hatte, lehnte sich zurück und blickte in die Flamme. Es gab doch nichts

Sch?neres an Weihnachten als echtes, lebendiges Kerzenlicht.

Nach dem Gespr?ch mit Nina hatte es nicht lange gedauert, bis Marco sich

bei ihr meldete. "Wenn es dir zu viel wird, k?nnen wir doch die Tanne

schmücken", bot er an.

"Vielen Dank", antwortete sie, "aber eigentlich fand ich es immer schon

absurd, sich einen Baum in die Wohnung zu stellen. B?ume geh?ren in den Wald

oder in einen Garten."

"Aber ...", setzte ihr Sohn an, doch sie lie? ihn nicht weiterreden.

"übrigens - gut, dass du anrufst. Ich muss dir n?mlich noch was sagen. Es gibt

diesmal keinen Karpfen."

"Was? Wieso denn nicht?"

"Ich hab vergessen, welche zu bestellen", erkl?rte sie. "Und jetzt ist es

zu sp?t."

"Aber wir essen doch jedes Jahr Karpfen", beschwerte sich Marco. "Solange

ich denken kann."

"Nichts zu machen. Und ich bin sowieso nicht scharf darauf. Au?erdem war es

immer sehr viel Arbeit."

Schon am n?chsten Tag rief ihr Sohn wieder an: "H?r mal, Mama, Nina und ich

haben uns überlegt, dass es vielleicht besser ist, wenn wir dieses Jahr allein

mit den Kindern feiern ..."

Elisabeth l?chelte wieder. Langsam bekam sie Appetit. In der Küche machte

sie sich einen Teller mit k?stlichem gekauftem Kartoffelsalat und knackigen

Würstchen aus dem Glas zurecht und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück.

Sie legte eine CD ein und schaute sich in ihrem Weihnachtszimmer um. Kein

Geschenkpapier auf dem Boden, kein Gedr?nge, keine Enkel, die durch die Wohnung

rasten und zwischendurch "Von drau?', vom Walde komm ich her" herunterleierten,

kein schiefer Gesang, begleitet von schrillen Blockfl?tent?nen.

Es hatte geklappt: Endlich konnte sie Weihnachten so feiern, wie es ihr

gefiel - in aller Ruhe!